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«Die SBS, würde ich sagen, macht Spass.»

Ohne Braille geht es nicht

Die sieben Jahre alte Enya Lyons ist zurzeit dabei, die Brailleschrift zu lernen. Mit ihren Eltern Angela und Stephen kam sie in die SBS, um über ihre Blindheit und ihre Erfahrungen mit der Brailleschrift zu berichten.

Enya Lyons mit ihren Eltern

Martin Orgler: Bist du seit deiner Geburt blind?

Enya Lyons (EL): Ja.

Angela Lyons (AL): Es ist, weil Daddy und Mami das blöde defekte Gen haben, und du hast es von beiden vererbt bekommen.

Stephen Lyons (SL): Es ist ein grosser Zufall, dass wir uns gefunden haben und dass das defekte Gen gleich von beiden weitergegeben wurde.

Hast du einen kleinen Sehrest?

EL: Ja, ich kann hell und dunkel unterscheiden.

Konturen und Formen siehst du nicht?

EL: Die kann ich nur mit den Fingern ertasten.

Fühlst du dich eingeschränkt, weil du nicht sehen kannst?

EL: Nein.

Kannst du alles machen, was du willst?

EL: Nein, das auch nicht.

Was möchtest du machen können?

EL: Ich finde es doof, dass ich in der Schule bei Spielen, die cool sind, nicht mitmachen kann, weil man mit den Augen schauen muss.

Habt ihr auch schon Spiele ausgeliehen bei der SBS?

EL: Noch nicht.

AL: Nein, Spiele haben wir noch nie ausgeliehen. Wir leihen vor allem Bücher aus. Aber zu Weihnachten haben beide Töchter Spiele geschenkt bekommen.

Verstehst du dich gut mit deiner älteren Schwester?

EL: Manchmal haben wir Streit, manchmal nicht.

SL: Sie verstehen sich sehr gut.

Gibt es Dinge, die du besser kannst als deine Schwester?

EL: Es gibt sicher ein paar Dinge, in denen ich besser bin.

AL: Beim Hören und beim Braille Lesen bist du viel besser als sie.

Kommt es auch vor, dass du neidisch bist auf deine Schwester?

EL: Ja, aber ich weiss nicht worauf.

SL: Findest du es blöd, dass sie fernsehen kann und du nicht?

EL: Das finde ich nicht so schlimm. Meine Hörgeschichten sind irgendwie viel besser.

Welche Schule besuchst du jetzt?

EL: Ich gehe in die Regelschule.

Bist du in deiner Klasse die einzige blinde Schülerin?

EL: Ja. Das war ich schon im Kindergarten.

Die Brailleschrift lernst du in einer anderen Schule?

EL: In der Blindenschule.

SL: Es kommt jemand von der Schule Fokus Sehen (SFS), der ihr in der Regelschule Unterricht gibt.

EL: Zum Beispiel Frau Bracher. Sie bestellt auch Bücher und Spiele in der SBS.

Kennst du andere blinde Kinder?

EL: Eigentlich nicht.

Hast du in der SFS Einzelunterricht?

EL: Ja, ich bin die meiste Zeit alleine. Beim Turnen bin ich mit anderen zusammen.

Welche Fächer machen dir in der Schule besonders Spass?

EL: In der Regelschule Sport und Musik. In der SFS finde ich Computer sehr spannend, und ich mache auch gerne Mobilität, also laufen mit dem Blindenstock.

Gibt es auch Fächer, die du gar nicht magst?

EL: Ja, Mathe und Deutsch.

Was machst du in deiner Freizeit gerne?

EL: Ich spiele viel, höre Geschichten und ich entdecke gerne neue Sachen.

Entdecken, wie meinst du das?

EL: Also, ich will irgendwie alles befingern. Ja, ich will alles wissen. Mein Hobby ist Reiten. Und ich bastle gerne. Im Moment schreibe ich mit meiner Braillezeile am Computer eine kleine Geschichte – meine erste. Ich habe den Computer mit Braillezeile noch nicht lang.

Was möchtest du später beruflich machen?

EL: Ich würde gerne Autorin werden. Das ist mein grösster Wunsch. Mir Sachen ausdenken, das macht mir Spass. Und Sachen schreiben, wie eben diese Geschichte.

Wie viel hast du schon geschrieben?

EL: Ich bin schon halb fertig mit meinem Anfang, aber es fehlt noch viel.

Hast du die ganze Geschichte bereits im Kopf?

EL: Ja, genau. Ich muss einfach wissen, was ich schon geschrieben habe, und dann kann ich dort weiterschreiben, wo ich aufgehört habe.

Wann hast du angefangen, die Brailleschrift zu lernen?

EL: Im ersten oder zweiten Kindergarten.

AL: Im zweiten Kindergarten hat sie in der SFS mit Brailleschrift angefangen. Vorher haben sie im Kindergarten einfach Übungen für das Tasten gemacht.

Findest du es schwierig, die Brailleschrift zu lernen?

EL: Ja, schon ein wenig. Es ist ein ziemliches Stück Arbeit, bis man das kann.

Es braucht viel Fingerspitzengefühl?

EL: Ja, und auch fast gleiche Buchstaben finde ich verwirrend.

Welche sind sich sehr ähnlich?

AL: Das »b«, das »f«, das »h« und das »j«.

EL: Oh Gott, die! Mit denen kannst du mich jagen.

Du hast gesagt, dass du einen Computer mit Braillezeile hast. Kannst du die Brailleschrift auch am Computer lernen?

EL: Ja. Wir üben zuerst an der Schreibmaschine, dann gehen wir an die Braillezeile.

Bekommst du auch Schulmaterial ausgedruckt in Brailleschrift?

EL: Ja, wir bekommen auch Drucksachen. Ich habe zu Hause aber auch einen Drucker. Wenn ich meine Geschichte fertig geschrieben habe, will ich sie ausdrucken, damit man sie in Braille spüren kann. Ich finde es sehr cool, dass mein Computer reden kann, und ich kann auf der Braillezeile schauen und spüren, was der Computer sagt.

Kannst du so gut lernen und dir den Stoff gut merken?

EL: Ja, genau.

AL: In der Brailleschrift nimmt man immer nur einen Buchstaben nach dem anderen wahr. Je länger ein Wort ist, umso schwieriger ist das Zusammenfügen. Das ist natürlich Übungssache.

SL: Ihr fehlt noch der Wortschatz, um gewisse Wörter erraten zu können, bevor sie fertiggelesen sind.

EL: Wir machen in der Schule Leseübungen. Dort muss ich Silben lesen und sie dann zu Wörtern zusammenfügen. Dann muss ich ankreuzen, welche Silben ich genommen habe. Das mache ich als Morgenarbeit. Das finde ich sehr cool.

Hilft dir die Brailleschrift auch im Alltag?

EL: Ja.

SL: Es gibt vieles, was in Brailleschrift angeschrieben ist, zum Beispiel die Stockwerke in Liften.

Wie wichtig ist es für euch, dass Enya die Brailleschrift lernt?

SL: Für mich ist wichtig, dass ihr auch die Welt zur Literatur offensteht. Und dass sie Chancen in ihrem zukünftigen Job hat. Es ist eine grundlegende Anforderung: Man muss immer etwas lesen können oder sich Informationen beschaffen, und die müssen irgendwie erfassbar werden.

Sie lernen auch die Brailleschrift?

AL: Ich bin da hineingerutscht, da ich Enya bei den Schulaufgaben helfe.

EL: Und jetzt will Mami das ja auch, denn Blindenschrift ist eine spannende Schrift. Mami und meine Schwester Kiara lernen mit mir zusammen die Brailleschrift, damit sie dann irgendwann mit mir zusammen diese Geheimsprache haben.

AL: Ja, es ist sehr spannend. Das Schwierige ist das Erspüren der Punkte, da habe ich keine Chance.

EL: Du brauchst eine Stunde. Ich brauche eine Minute.

AL: Ich muss die Punkte über die Augen aufnehmen, dann geht es.

Hast du bei der SBS bereits Bücher ausgeliehen?

EL: Ja.

AL: Viele Bücher in Schwarz- und Blindenschrift.

Print und Braille?

AL: Ja, genau. Da gibt es ganz tolle Werke.

EL: Das Buch, das ich am häufigsten ausgeliehen habe, ist »Die kleine Raupe Nimmersatt«. Das ist ein sehr cooles Buch. Ich liebe ganz besonders die Verwandlung im Kokon, weil man den Kokon spüren kann.

Enya mit einem tastbaren Bilderbuch

Rufst du bei der SBS an, um Bücher zu bestellen?

EL: Nein, wir rufen nicht an, wir machen das über das Internet.

SL: Nicht nur. Die Website ist ein wenig komplex. Es ist schwierig, genau das zu finden, was man sucht.

EL: Bücher in Brailleschrift sind mir noch zu schwierig. Text und Bilder, das geht, aber nur Text – nein.

Ist das Angebot der SBS für dich gut, hast du genug Auswahl?

EL: Ja, wir schauen immer am gleichen Ort, weil es dort die meisten Bücher für mich gibt.

AL: Da müssen wir uns dann jeweils entscheiden.

EL: Genau! Ihr habt eine so grosse und gute Auswahl, da kann man sich ja gar nicht entscheiden.

Bekommst du auch für die Schule Bücher von der SBS?

EL: Ja, auch mit Bildern. Mit diesen Büchern fange ich in der Schule jetzt an, Texte zu lesen.

AL: »Die kleine Raupe Nimmersatt« habe ich von euch ausgeliehen und sogar in die Spielgruppe mitgenommen, weil es einfach ein tolles Buch ist.

EL: Vor allem, weil man da alles auch ertasten kann, nicht wie bei den Büchern, die man nur lesen kann. Zum Glück gibt es aber bei der Raupe neben der Brailleschrift auch noch Schwarzschrift.

SL: Das ist gut für mich, so kann ich die Geschichte auch lesen.

Was haltet ihr von der Erfindung der Brailleschrift? Welche Bedeutung hat sie?

AL: Das ist eine sehr wichtige Sache, eine Megaerfindung.

SL: Es ist vor allem auch ein wichtiger Schritt für die Inklusion. Die Welt steht blinden Menschen dank der Brailleschrift generell offen. Aber die Menschheit ist, was Inklusion anbelangt, immer noch nicht so weit, wie sie sein könnte.

AL: Daher ist es wirklich schön, dass du in die Regelschule gehen kannst.

Fühlst du dich dort gut aufgehoben?

EL: Ja, sie helfen mir sehr. Die Assistentin in unserer Klasse hilft eigentlich besonders mir. Die Mitschüler begleiten mich vom Schulbus ins Schulhaus und umgekehrt. Das finde ich sehr gut.

SL: In der Pause wollen sie auch mit dir spielen?

EL: Im Moment noch nicht, aber das wird sicher noch kommen.

Kinder grossziehen ist immer eine Herausforderung. Ist das bei einem blinden Kind anders, schwieriger oder leichter?

SL: Wir haben ein sehendes Kind, Kiara, das jetzt zehn Jahre alt ist. Enya ist sieben. Es hilft sehr, dass eine ältere Schwester da ist, der Enya nacheifern kann. Unsere ältere Tochter bastelt, malt oder spielt aus eigenem Willen, aus Eigeninitiative mit Enya. Zusammen spielen sie »Fangis«. Sie rennen in der Wohnung umher oder auch draussen, machen »Versteckis«. Es ist schon anders. Wenn die Grosse etwas haben wollte, hat sie es sich geholt. Bei Enya ist es meistens so: Mami, Daddy, wo ist das, ich will das jetzt machen. Und dann müssen wir das halt zusammen machen. Man kann sie weniger selbständig lassen.

AL: Als wir drei Monate nach der Geburt von Enya erfahren haben, dass sie vermutlich blind ist, war das zuerst natürlich ein Schock. Nachher war es unser Ziel, dass alles möglichst normal laufen soll und sie normal aufwachsen kann. Wir sind zum Beispiel viel in Winterthur im Technorama, denn das ist für alle Kinder.

EL: Dort gibt es vieles, was ich wirklich gut machen kann. Anderes kann ich nicht so gut, weil ich nicht sehen kann.

AL: Wenn wir im Sommer in der Badi sind, ist Enya auch allein unterwegs. Sie geht allein auf die Rutschbahn, ins Wasser, sie macht auch allein einen Kopfsprung ins Wasser.

EL: Ich kann nämlich schon ein wenig schwimmen.

SL: Und was machst du im Winter, wenn es kalt ist?

EL: Schlittschuhlaufen. Auf dem Eis habe ich ein kleines Helferlein, einen Pinguin, der mich stützt, denn ich kann es noch nicht so gut. Ich fahre einfach in der Gegend herum, kreuz und quer über das Eis.

AL: Und was machst du im Herbst in Basel gerne?

EL: Wir gehen dort an die Herbstmesse. Das ist sehr cool. Dort gibt es eine Achterbahn. Ich liebe es, wenn es so richtig hinuntergeht.

Ist die SBS für euch eine Hilfe?

AL: Die SBS, würde ich sagen, macht Spass. Schon das Durchsehen – was gibt es für Bücher, welche könnten wir ausleihen?

EL: Was ist neu, was wollen wir einmal ausprobieren?

AL: Genau, nur schon das Aussuchen ist auch für mich jedes Mal toll. Und für Enya ist es grossartig, wenn ein Paket von der SBS kommt. Ihre Vorfreude, was wird wohl in diesem Paket sein? In solchen Momenten ist alles andere unwichtig. Dann müssen wir zuerst das Paket auspacken, und sie will spüren, was drin ist.

SL: Ich finde es super, dass es die SBS gibt. Wir hoffen auf weitere erfolgreiche Jahre. Wir haben auch abgemacht, dass wir das nächste Mal, wenn wir nach Frankreich fahren, in Paris auf jeden Fall das Musée Louis Braille besuchen werden.

Herzlichen Dank.
Martin Orgler