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Grenzerfahrungen

Martina Talamona

SBS-Interview

Ein Mitarbeiter machte mich auf einen Artikel aufmerksam, der beschreibt, wie eine stark sehbehinderte Frau gemeinsam mit ihrem Mann eine Fernwanderung über die Alpen, von Rorschach nach Triest, unternommen hat. Ich konnte das kaum glauben und wollte die beiden unbedingt zu ihrer Wanderung befragen. So traf ich auf Martina und Martin Talamona. Was ich nicht erwartete: Ihre spannende Geschichte geht weit über die Wanderung hinaus.

Frau Talamona, wann bemerkten Sie erste Einschränkungen Ihrer Sehfähigkeit?

Martina: 2016 bemerkte ich, dass ich am Computer Schwierigkeiten hatte. Ich dachte, vermutlich haben sich die Augen altersbedingt verändert. Als der Optiker aber nur auf 60% korrigieren konnte, ging ich zum Augenarzt, dann in die Uniklinik in Zürich und erhielt im März 2017 die Diagnose Morbus Stargardt, eine fortschreitende, genetisch bedingte Erkrankung, die sich sehr schnell, aber auch sehr langsam entwickeln kann. Ich hoffte, vielleicht geht es bei mir langsam, vielleicht erlebe ich das Endstadium gar nicht. Innerhalb von zwölf Monaten hatte ich aber den grössten Teil meiner Sehfähigkeit verloren und nur noch einen Sehrest von fünf Prozent. Heute sind es zwei Prozent.

Können Sie beschreiben, wie Sie sehen?

Martina: Der zentrale Bereich der Netzhaut ist beschädigt, nur am Rand habe ich noch funktionierende Sinneszellen. Wenn ich Sie ansehe, sehe ich Sie schemenhaft und den Kopf überhaupt nicht. Ihr schwarzes Oberteil bildet einen Kontrast zum Hintergrund. So kann ich mir vorstellen, wo die Schultern sind, wo das Gesicht ist, und ich kann Blickkontakt suchen und halten. Das klappt wahrscheinlich nicht immer so gut. Je nachdem, wie ich schaue, zum Beispiel ein wenig an Ihnen vorbei, bekomme ich langsam ein recht vollständiges Bild, einfach unscharf.

«Ich hätte weinen können, als ich Martin ansah und sein Gesicht nicht mehr da war.»
«Ich hätte weinen können, als ich Martin ansah und sein Gesicht nicht mehr da war.»

Martin: Beim Wandern ist eines der grössten Risiken, dass Martinas Gehirn Dinge ergänzt, die es nicht gibt oder die nicht real sind. Wenn ein Wanderweg plötzlich abfällt, ist es gefährlich, wenn das Gehirn sagt, es gehe flach weiter. Sie kann dem Bild, das sie sieht, nicht trauen.

Martina: Am Anfang war eine Fläche wie ausradiert. Mein Gehirn füllt nun diese Fläche. Wenn ich zu Ihnen schaue, ist dort, wo der Kopf ist, einfach Hintergrund. Es sieht für mich aber nicht so aus, als würde etwas fehlen. Der Sehverlust kam schubweise. Zuerst bemerkte ich, dass Velofahren nicht mehr geht, später, dass ich im Kühlschrank nichts mehr erkenne. Das Schlimmste war, als Gesichter verschwanden. Ich hätte weinen können, als ich Martin ansah und sein Gesicht nicht mehr da war und ich auch mich nicht mehr im Spiegel sah. Ich komme sonst gut zurecht, aber das ist echt schwer.

Martin: Bei der Arbeit oder am Familientisch mit vielen Leuten merkt man es gut. Es passiert ja häufig, dass man jemanden ansieht und die Person dann weiss, jetzt bin ich gemeint. Martina hat kaum eine Chance, an so einer Konversation teilzunehmen.

Martina: In solchen Situationen fühle ich mich ein wenig ausgeschlossen. Schwierig auch, wenn es plötzlich ruhig wird und keiner etwas sagt – bin ich gemeint? Sieht mich gerade jemand an?

Herr Talamona, wussten Sie nach der Diagnose, da kommt nun auch etwas auf Sie zu?

Martin: Dass Martina fast nichts sieht, macht mir das Leben nicht schwerer. Das hat natürlich damit zu tun, wie sie damit umgeht. Es war zu Beginn ambivalent, weil es zwar etwas Neues und daher spannend war, aber vor allem schlimm zu beobachten war, was es mit Martina machte.

Martina: Der Sehverlust kam gleichzeitig mit einem Burnout. Als ich die Diagnose erhielt, war ich im Job gerade sehr gefordert. Diese Erkrankung tritt in der Regel im Kindes- oder Jugendalter auf. Dass eine Erwachsene daran erkrankt, ist sehr ungewöhnlich. Ich finde interessant, dass der Sehverlust gerade in dieser Zeit anfing.

Gab es einen Zusammenhang mit dem Burnout?

Martina: Es bedingte sich wahrscheinlich gegenseitig. Ich hatte Angst, dass ich nie mehr arbeiten kann, wenn meine Sehfähigkeit nicht mehr ausreicht. Ich war verzweifelt. Das Leistungsniveau zu halten, war mit meinen schlechter werdenden Augen sehr anstrengend. Ich wurde immer langsamer. Um dies zu kompensieren, arbeitete ich fast rund um die Uhr. Rückblickend eigentlich verrückt.

Würden Sie heute etwas anders machen?

Martina: Als ich die Diagnose erhielt, rechnete niemand damit, dass der Sehverlust so schnell geht. Die Ärzte sagten mir, ich solle in einem Jahr wiederkommen. Als ich sehr schnell immer schlechter sah, wusste ich nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich ging zu einer Beratungsstelle der Retina Suisse. Die Beraterin warnte mich vor einem Burnout. Ich wäre nicht die erste, der das passiert. Ich glaube, wenn ich früh genug verstanden hätte, dass ich meine Arbeit trotz Sehverlust weiter machen kann, wäre ich anders damit umgegangen.

Wie war das für Sie, Herr Talamona?

Martin: Es beschäftigte mich sehr, weil ich es kommen sah, mich aber hilf- und machtlos fühlte. Ich versuchte, sie bei der Arbeit zu unterstützen, im Wissen, dass das völlig kontraproduktiv ist. Aber ich sah keine andere Möglichkeit, ihr zu helfen. Ihr Job war ihr zu wichtig und von Hilfsmitteln wollte sie noch nichts wissen.

Martina: Ich war so müde, so überfordert, so gestresst. Alles, was mir Martin zeigen wollte, kostete Zeit, und die hatte ich nicht. Erst nachdem ich mich vom Burnout erholt und wieder Energie hatte, konnte ich anfangen, mich mit meinen Augen auseinanderzusetzen. Dann fing das Lernen an: Welche Möglichkeiten gibt es, welche Hilfsmittel, welche Strategien?

«Es ist für mich Lebensqualität, Bücher hören zu dürfen.»
«Es ist für mich Lebensqualität, Bücher hören zu dürfen.»

War die SBS eine Hilfe für Sie?

Martina: Ja, sehr. Meine Eltern leiteten über 40 Jahre lang eine Bücherei. Ich wuchs mit Büchern auf. Nicht mehr lesen zu können, war für mich die Höchststrafe. Mit den Hörbüchern kann ich nach wie vor lesen, und das Schöne ist: Es liest mir jemand vor. Es ist ein Stück Normalität, aber auch Ablenkung, eine Auszeit vom Alltag.

Martin: Als ich Martina kennen lernte, hörte sie schon Hörbücher, wenn sie zum Beispiel während der Hausarbeit nicht lesen konnte. Bücher waren schon immer wichtig.

Martina: Es ist für mich Lebensqualität, Bücher hören zu dürfen, und ich finde es grossartig, dass es so etwas gibt. Ich finde auch die vielen Neuerscheinungen faszinierend. Wenn ich Bücher ausleihe, gehe ich auf »Neue Bücher« und höre einfach mal durch. Ich finde das erstaunlich: Permanent wird für Nachschub gesorgt.

Können Sie uns ein Buch empfehlen?

Martina: Ja, eines meiner Lieblingsbücher: »Was man von hier aus sehen kann« von Marianne Leki. Das ist ein wunderschönes Buch, märchenhaft, tiefgründig, klug, sehr schön geschrieben, sehr schön erzählt und auch toll vorgelesen.

Veränderte sich Ihre Beziehung durch Burnout und Verlust der Sehkraft?

Martina: Das belastete unsere Beziehung sehr. Die Vorstellung, von jemandem abhängig zu sein, konnte ich kaum aushalten. Das motivierte mich und trug dazu bei, dass ich heute das Meiste wieder selbst kann.

Martin: Es stellte unsere Beziehung für eine lange Zeit auf eine harte Belastungsprobe. Es hatte nicht direkt mit der Sehbehinderung zu tun, sondern mit dem psychischen Zustand, zu dem auch die Sehbehinderung beigetragen hat.

Martina: Während des Burnouts hatte ich die Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfisches. Da ging nichts mehr. Von mir, von meiner Persönlichkeit war nicht mehr viel da. Das muss eine Beziehung erst mal aushalten. Ich bin sehr froh, dass wir das überstanden haben.

Martina Talamona auf ihrer Wanderung über die Alpen.
Martina Talamona auf ihrer Wanderung über die Alpen.

War die Wanderung eine Art Therapie?

Martina: 2020 bekam ich die Chance, wieder in meinem früheren Unternehmen in meiner früheren Funktion einzusteigen. Das war nicht einfach. Wie komme ich mit der IT klar? Wie erkenne ich, wer mich anspricht? Wie führe ich Gespräche? Wie mache ich mir Notizen? Neben allen anderen Aufgaben war ich sehr mit solchen Fragen beschäftigt. Daher war ich gefordert. Aber ich schaffte es. Ich merkte allerdings, dass ich mich verändert hatte und mich auch beruflich verändern wollte. Das war ein Grund für die Wanderung. Ich wollte mir Zeit nehmen, zu überlegen, was ich zukünftig machen möchte. Der zweite Grund war, dass ich mit Martin Zeit verbringen wollte.

War die Wanderung Mut oder Übermut?

Martin: Übermut war es nicht. Wir machten uns vorher viele Gedanken. Das muss man, wenn man drei Monate unterwegs sein will. Es war auf jeden Fall in vielen Belangen mutig.

Martina: Vieles war unklar. Was kommt auf uns zu? Was macht das mit unserer Beziehung, wenn wir drei Monate lang jede Laune voneinander mitbekommen? Wie steht es um unsere Leistungsfähigkeit? Werden wir krank? Verletzen wir uns? Es gab viele Unbekannte. Ja, wir brauchten Mut.

Sie hätten es sich einfacher machen können. Man muss nicht zwingend die Alpen überqueren, um ans Meer zu kommen.

«Wenn ich durch Zürich laufe, brauche ich einen Blindenstock. In den Bergen brauche ich keinen.»
«Wenn ich durch Zürich laufe, brauche ich einen Blindenstock. In den Bergen brauche ich keinen.»

Martina: (lacht) Wir wandern einfach gerne in den Bergen. Man könnte denken, dass es im Flachen einfacher ist, wenn man nicht gut sieht. Als wir am Bodensee entlangliefen, war das ein Alptraum für mich. Ständig kamen uns Velos entgegen, die ich nicht höre. Da war ich gestresst. Wenn ich durch Zürich laufe, brauche ich den Blindenstock. In den Bergen brauche ich keinen. Wir laufen gemächlich, es gibt nur wenige Menschen und keinen Verkehr.

Haben Sie bei der Routenplanung versucht, die steilsten und schmalsten Bergwege zu meiden?

Martin: Nein, im Gegenteil. Ich kenne Martina. Wenn es zwei Varianten gibt, und ich sage, links ist der leichte und rechts der schwere Weg, dann biegt sie sowieso rechts ab. Einfluss auf die Planung hatte jedoch die Länge der Etappen. Wandern ist für Martina ungleich anstrengender. Sie ist mit ihrer Restsehfähigkeit unterwegs. Das ist sehr anstrengend und dadurch auch gefährlicher, je länger die Wanderung dauert. Wir hatten Etappen, auf denen es nass war, das machte ihr sehr zu schaffen. Den Weg sieht sie nicht, und nasse Steine und Wurzeln sind gefährlich. Da müssen wir uns Zeit lassen. Also berücksichtigte ich, dass bei schlechtem Wetter eine Wanderung schnell acht statt fünf Stunden dauern kann.

Herr Talamona, haben Sie überlegt, was passiert, wenn Sie stolpern?

Martin: Das klingt vielleicht seltsam, aber ich bin mir sicher, dass mir Martina genauso gut helfen kann wie andere auch. Sie würde das irgendwie schaffen. Es gab beim Wandern Situationen, in denen ich keine Lust mehr hatte, nicht mehr konnte. Dann übernahm sie den Lead.

Was bleibt Ihnen als besonders schönes Erlebnis in Erinnerung?

Martina: Im Wandertempo hatte ich Zeit, meinen Weg zu finden und die Veränderungen mit allen Sinnen zu erleben. Wir starteten in der Schweiz, wanderten durch Deutschland, Österreich, Südtirol und Venetien ins Friaul. Schritt für Schritt veränderte sich die Landschaft, die Sprache, was es zum Frühstück gab. Das war sehr beeindruckend und schön. Eindrücklich war auch, dass es sich natürlich anfühlte, jeden Tag zu wandern. Das hat uns beiden gut getan und wir wurden immer fitter.

Martin: (lacht) Martina meinte, dass es nur über zwei Anstiege gehe, einmal über die Alpen und einmal über die Dolomiten. Erst unterwegs bemerkte sie, dass das nicht stimmte.

Martina: Es waren insgesamt etwa 40'000 Höhenmeter. Martin hat mir das mit Sicherheit vor unserer Wanderung gesagt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, was das bedeutet. Es ging wirklich sehr oft hoch und runter.

Was machen Sie jetzt?

Martina: Ich halte Vorträge zum Thema Burnout und Prävention stressbedingter Erkrankungen, auch gemeinsam mit Martin. Es ist eine Herzensangelegenheit, dazu beizutragen, solche Erkrankungen zu verhindern. Daher habe ich eine Weiterbildung als Resilienztrainerin gemacht. Im Januar habe ich zudem angefangen, als Integrationscoach für berufliche Wiedereingliederung zu arbeiten.

Können Schicksalsschläge einen stärker machen?

Martina: Ja. Ich komme heute gut zurecht. Ich bin stolz und auch fasziniert, was mein Körper alles kann. Ich kompensiere einen grossen Teil des fehlenden Sehens durch andere Sinne. Prof. Dr. Scholl aus der Augenklinik in Basel sagte mir, dass Patienten oft den Eindruck haben, dass sie mit der Zeit besser sehen, obwohl sich die Sehfähigkeit nicht verändert. Das liegt daran, dass wir lernen damit umzugehen. Ich finde das faszinierend.

Ich habe noch nie so viel über mich gelernt und würde das auf keinen Fall wieder hergeben wollen. Das hat mich extrem bereichert und auch extrem verändert.

Vielen Dank!
Martin Orgler

Martina Talamona (51) studierte Psychologie und arbeitete anschliessend im Personalwesen, zuletzt als HR-Leiterin auf Geschäftsleitungsebene. 2008 kam sie aus Deutschland in die Schweiz.

Martin Talamona (51) wechselte nach einer technischen Berufslehre in die Informatik und hat dort in verschiedenen Führungsfunktionen Unternehmen in modernen Zusammenarbeitsformen geprägt. Vor vier Jahren wechselte er ins Gesundheitswesen und ist heute Leiter der Organisationsentwicklung im Stadtspital Zürich.

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