Ich will kein Jammeri sein
SBS-Interview
Cornelia Zumsteg ist eine unserer langjährigsten Kundinnen. Seit bald siebzig Jahren ist sie bei der SBS angemeldet. Ihr bewegendes Schicksal, wie sie erblindet ist, wie sie damit umgeht und welche Hilfe ihr die SBS seit vielen Jahren ist, hat sie uns ausführlich erzählt.
SBS: Wie kam es dazu, dass Sie erblindet sind?
Cornelia Zumsteg: Ich war drei Jahre alt. Eines Tages bin ich aufgewacht und konnte mich überhaut nicht mehr bewegen. Meine Gelenke waren steif, und ich hatte wahnsinnige Schmerzen. Ich litt an Juveniler Polyarthritis, die von den Ärzten aber nicht erkannt wurde. Sie behandelten mich auf Tuberkulose, viereinhalb Jahre lang. Die Überdosis an Streptomycin hat mein Augenlicht zerstört. Ich bin am Mittagstisch erblindet. Meine Mutter sass neben mir und ich im Rollstuhl, ich war siebeneinhalb Jahre alt und sah plötzlich ihr Gesicht nicht mehr. Das war ein Riesenschock – meine Mutter war einfach weg. Ich erkannte dann noch Hell und Dunkel und die Farben, zum Glück. Mit elf Jahren wurde ich in Genf operiert. Der Eingriff glückte eigentlich. Sieben Stunden lang operierten die Ärzte am Auge. Drei Wochen lang durfte ich mich nicht bewegen. Und dann hiess es, es sei jetzt gut. Ein paar Tage später geschah es. Ich freute mich sehr, dass ich wieder sehen konnte, musste aber die Dinge, um sie zu sehen, noch nahe ans Auge halten. Am Boden lag ein rotes Spielzeugauto, ich hob es auf und schaute es näher an. Ein Junge riss es mir aus der Hand und stiess es dabei in mein operiertes Auge. Das Auge war futsch! Es lief aus. Danach habe ich nichts mehr gesehen.
Da konnte man nichts mehr retten?
Nein, leider nicht.
Später haben Sie durch eine Entzündung Ihren letzten Sehrest verloren?
Das ist ganz dumm gelaufen. Wir hatten bei der Arbeit sehr viel zu tun, und ich bekam im Auge einen Infekt. Ich hatte damals das Gefühl, dass ich nicht fehlen darf, und ging daher zu spät zum Arzt. Ich wurde am 24. Dezember zwanzig Jahre alt, und am 26. Dezember musste mein Auge entfernt werden. Ich fragte eine Ärztin damals, ob man mit dem anderen Auge noch etwas machen könne. Sie hat mir direkt ins Gesicht gesagt: »Sie müssen sich damit abfinden, Sie werden blind sein, Ihr Leben lang. Es gibt nichts mehr, man kann nichts mehr tun.« Das war schon ein Schock für mich.
Sie sehen jetzt nichts mehr?
Nein, wirklich gar nichts mehr. Ich vermisse es schon, besonders heutzutage, wo alles digital ist und man ständig Bilder macht. Wenn man zum Beispiel zu Besuch ist, machen alle sofort Fotos. Alles ist visuell heute, das ist wahnsinnig. Alles muss man online machen. Ich finde das schlimm, in meinem Alter, ich bin jetzt 76.
Das alles war und ist sicher sehr schwierig für Sie.
Ja, das Schicksal hat es nicht gut gemeint mit mir. Ich war damals auch in keiner Krankenversicherung, das zog meinen Eltern fast den Boden unter den Füssen weg. Als ich auf die Welt kam, war die Versicherung noch nicht obligatorisch. Als ich mit drei Jahren die Polyarthritis bekam, weigerte sich die Krankenkasse, mich aufzunehmen.
Sie mussten alles selbst bezahlen?
Ja, alles. Ich hatte dann auch noch eine Kieferoperation, weil mein Gesicht wegen der Lähmungen nicht richtig gewachsen war. Ich konnte erst mit zwölf Jahren in einen Apfel oder ein Stück Brot beissen. Vorher ging das nicht. Die Kieferoperation musste ich dann ratenweise abzahlen. Meine Eltern halfen mir, aber ich musste einen grossen Teil selbst begleichen. Mit 21 Jahren hat mich dann zum grossen Glück eine Krankenversicherung aufgenommen. Mit 30 Jahren, da war ich schon verheiratet, hatte ich noch eine zweite grosse Kieferoperation. Sie dauerte zwölf Stunden.
Wie war es für Sie, von einer Katastrophe in die nächste zu geraten?
Ich habe immer versucht, damit fertig zu werden, und mir gedacht, das ist jetzt halt der Moment, und da musst du nun einfach durch, nachher wird es wieder gut. Ich habe zwei Knie- und zwei Hüftprothesen. Das waren auch schwierige Operationen. Ich war einfach froh, wieder gehen zu können. Ich habe immer wieder daran geglaubt, dass es besser wird. Mir haben auch der Glaube, meine Familie und gute, langjährige Freundinnen geholfen. Es ist schön, wenn man gute Leute hat, die einen begleiten. Ich habe mir das Ziel gesetzt, kein »Jammeri« zu sein, also nicht die ganze Zeit von meiner Krankheit zu reden. Jeder Mensch hat ja etwas, hat sein Kreuz zu tragen. Meine Kindheit war bestimmt durch Spitäler, Therapien und Operationen. Ich fing eigentlich erst später an zu leben, als ich aus der Schule kam. Ich hatte das Glück, dass ich von der vierten bis zur sechsten Klasse mit Sehenden in die Schule gehen konnte. Das war damals ungewöhnlich, weil sich die meisten Schulen weigerten, ein blindes Kind aufzunehmen.
War das in Zürich?
Ja, ich bin hinter dem Zoo im Klösterli aufgewachsen. Mein Lehrer wohnte in der Nachbarschaft. Er erklärte sich bereit, mich in die Klasse aufzunehmen. Das war natürlich wunderbar. So hatte ich auch sehende Kameraden und Kameradinnen und war in dieser Klasse völlig integriert. Für blindentechnische Belange hatten meine Eltern einen blinden Lehrer engagiert.
Hätten Sie nicht in die Blindenschule Zürich gehen können?
Die gab es damals noch nicht. Erst später besuchte ich dann die Blindenschule. Danach ging ich nach Lausanne und habe die Schule auf Französisch gemacht. Ich habe immer gerne Sprachen gehabt.
Konnten Sie vorher schon Französisch?
Nein, ich wurde ins kalte Wasser geworfen, in der Klasse waren nur Welsche. Später lernte ich Telefonistin. Das ist ein schöner Beruf, weil niemand sieht, dass man blind ist. Ich habe dann meine erste Stelle im Globus gehabt. Nebenbei habe ich Englisch gelernt, ein wenig Italienisch. Ich bin in die Klubschule gegangen.
Haben Sie immer alles selbst organisiert?
Alles. Ich habe mir im Unterricht immer wieder Freundinnen gesucht, die mir den Lernstoff aus den Schulbüchern diktiert haben. Dann habe ich diesen in Blindenschrift geschrieben und gleich auswendig gelernt. Das war schon aufwendig, es hat viel Freizeit gekostet.
Wann haben Sie die Blindenschrift gelernt?
Schon als Kind, bei dem blinden Lehrer, der jeweils zu mir nach Hause kam.
Hat Sie dieser Lehrer bei der SBS angemeldet?
Ja, seit bald 70 Jahren bin ich jetzt Kundin.
Haben Sie von der SBS auch Schulmaterial erhalten?
Das gab es noch nicht. Ich musste alles selber in Blindenschrift übertragen. Heute könnte ich es der SBS zur Übertragung geben. Das wäre damals eine sehr grosse Hilfe gewesen.
Ist die SBS heute eine grosse Hilfe für Sie?
Ja, gerade die Zeitschriften sind sehr hilfreich. Ich finde es toll, dass die SBS auch Zeitschriften auf CD hat. Das ist wirklich eine gute Sache. Momentan lese ich nicht so viele Bücher, weil mir die Zeit ein wenig fehlt, seit ich wieder in einer Beziehung bin.
Welche Hörzeitschriften leihen Sie aus?
Die Zeitlupe und Betty Bossi. Früher bezog ich auch Das Beste von der SBS in Blindenschrift. Ich bekomme auch regelmässig die Kataloge mit den neusten Büchern.
Sind Ihnen Bücher wichtig?
Lesen ist für mich sehr wichtig, und auch für meinen Freund. Er war Bibliothekar.
Können Sie uns einen Buchtipp geben?
Momentan lese ich ein Buch von Alex Oberholzer. Seine Geschichte verläuft parallel zu meiner eigenen. Er war fast zur gleichen Zeit wie ich im Kinderspital. Er hatte Kinderlähmung. Er war zwei, drei Jahre jünger als ich. Wir hatten die gleichen Krankenschwestern. Darüber hat er das Buch »Im Paradies der weissen Häubchen« geschrieben. Ich habe das ja alles auch erlebt. Ich hatte damals so grosses Heimweh. Damals durften die Eltern nicht zu Besuch kommen. Heute ist das Gott sei Dank anders. Es war eine sehr lange Zeit, die ich dort bleiben musste. Das war hart.
Wenn Sie bei der SBS etwas ausleihen, nutzen Sie dann den Nutzerservice?
Ja, ich finde es toll, dass man noch telefonieren kann, und ich fühle mich immer gut und freundlich beraten. Ich gehe auch gerne an den Tag der offenen Tür, um die Lesungen zu hören, das ist einfach spannend. Der ganze Betrieb ist lässig.
Finden Sie in der SBS immer, was Sie gerne lesen möchten?
Ja, eigentlich immer. Die Auswahl ist sehr gross. Die Beratung ist gut. Es sind wirklich tolle Leute am Telefon. Ich finde es wahnsinnig gut, dass es die SBS gibt.
Was haben Sie aktuell ausgeliehen?
Im Moment nur Zeitschriften. Ich lese noch viel in Blindenschrift, das ist das A und O. Wenn man etwas selber liest, dann bleibt es viel eher im Gedächtnis, wenn man es auch in den Fingern spürt. Ich habe auch eine Blindenschriftmaschine, mit der ich mir Notizen machen kann. Die ist zwar schon alt, aber funktioniert noch sehr gut.
Was könnte die SBS besser machen?
Ich muss sagen, für mich ist die SBS die beste Organisation. Daher bringe ich immer Bekannte mit zum Tag der offenen Tür. Sie sind begeistert, auch mein Freund ist fasziniert von der Herstellung der verschiedenen Medien.
War Ihre Blindheit ein Hindernis beim Finden eines Berufs?
Ich glaube, ich hatte Glück, in einer Zeit zu leben, in der man Telefonistinnen noch brauchen konnte. Ich lernte auch meinen ersten Mann am Telefon kennen – ich verliebte mich in seine Stimme. Er hatte sich eigentlich verwählt. Weil er eine so sympathische Stimme hatte, sagte ich, er müsse jetzt nicht gleich auflegen. Mit meinem jetzigen Partner bin ich nun seit zweieinhalb Jahren zusammen. Wir haben es einfach schön. Wir wohnen nicht zusammen. Er hat seine Wohnung, und ich habe meine. So gibt es auch keinen Streit wegen Kleinigkeiten. Er geht zum Beispiel viel früher ins Bett als ich. Ich bin eine Nachteule. Ich habe bis vor kurzem im Dunkelrestaurant Blindekuh serviert, 23 Jahre lang, und bin oft spät nach Hause gekommen. Daran gewöhnt man sich und deshalb kann ich nicht so früh schlafen gehen.
Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden?
Ja. Mit gewissen Einschränkungen. Was ich sehr schätze, sind Kontakte, auch Kontakte bei mir im Haus. Wir haben es hier wirklich wahnsinnig gut miteinander. Es ist nicht so, dass man sich jeden Tag die Türe einrennt. Das ist auch nicht nötig, aber ich könnte mich an alle im Haus wenden, wenn ich ein Problem hätte. Was mich jetzt sehr mitnimmt, ist, dass ich nicht mehr im Restaurant Blindekuh arbeiten kann. Im November 2022 fiel ich rückwärts von einem Podest auf den Hinterkopf. Ich hatte eine schwere Gehirnerschütterung und brach mir das Steissbein. An der Schulter waren zwei Sehnen gerissen. Seither arbeite ich nicht mehr. Es ist traurig für mich, dass ich keine Aufgabe mehr habe. Ich habe zwar eine schöne Beziehung, das ist toll, aber ich hätte so gerne noch einmal eine Aufgabe im Leben. Ich habe immer gerne gearbeitet. Vielleicht mal in ein Altersheim, um einsamen Menschen eine Freude zu machen. Jede Woche einmal oder so. Das eröffnet vielleicht auch mir wieder etwas. Ich finde es interessant, zu erfahren, wie alte Leute gelebt haben. Im Allgemeinen bin ich schon eher auf der optimistischen Seite. Zum Glück! Nein, ich lebe schon gern, ich lebe sehr gern, und seit ich den Stefan habe, sowieso. Es ist einfach schön, wenn man nicht allein ist. Ich habe sicher ab und zu Momente, in denen ich traurig bin, das haben alle. Aber irgendwo geht immer wieder ein Türchen auf oder ein Lichtlein an. Das hilft mir sehr im Leben.
Interview: René Moser und Martin Orgler
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